Ein Lyrikvideo Wettbewerb
2021
Vorwort
Queere Wortkunst, die die
Vielfalt der Liebe und Lebens-
weisen hinter dem nicht sehr
kurzen Kürzel LSBTIAQ sichtbar
macht, das ist »Pride-Poesie«.
Weltweit erinnern die Prides,
in Deutschland oft Christopher
Street Days, kurz CSDs, genannt,
an den signalgebenden Aufstand
von nicht-heterosexuellen Men-
schen gegen Polizeiwillkür im New
Yorker Stonewall im Jahre 1969.
In Europa geht die Menschen-
rechtsbewegung aufgrund der
Gesetzgebungen sogar zurück
bis ins neunzehnte Jahrhundert.
Noch vor Forscher Hirschfeld
machte der uranistische Jurist,
der Schriftsteller Karl Heinrich
Ulrichs, erster Schwuler der Welt
und Vater der Homo-Hochzeit,
sich für eine Liberalisierung
des Paragraphen 175 stark.
Letztlich wurde Homosexualität
in Deutschland bis 1994 weit
über 450 Jahre lang bestraft.
Doch schließlich fanden diese
ersten Entwicklungen des Selbst-
bewusstseins Andersfühlender
dann auch entsprechenden Aus-
druck, etwa in der chiffrierbaren
Lyrik.
Dass mit dieser Dichter*
innen einen ehrlichen Einblick in
homo-, bi-, trans*, inter-, asexuelle
sowie queere Liebes- und Lebens-
welten gewähren, hat eine lange,
reiche Tradition. Poesie ist wichtiger
Bestandteil des kulturellen Erbes
in vielen Teilen der Welt, ob Rumi,
Hafis, Sappho oder Kaiser Jianwen
von Liang, ob Sarmad Kashani,
Rimbaud oder Audrey Lorde.
Nach dem klassizistischen Winckel-
mann brachte jenes Jahr in Arkadien
schließlich erstmals offenen schwulen
Stolz, oh Kyllenion!, vor Fridolins heim-
licher Ehe, Frühlings Erwachen, der Liebe
Lust und Leid der Frau zur Frau,
Homosexualität, du deutsches Kind,
in Sitte und Recht, der fromme
Tanz am Zauberberge.
Heutzutage sind CSDs bzw. Prides
nicht nur Demonstrationen für die
rechtliche wie soziale Gleichstellung,
sondern ebenfalls Kundgebungen
positiver, selbstbewusster LSBTIAQ-
Lebensentwürfe mit vielfältigen Kunst-
und Kulturveranstaltungen. Dies
unterstützt und fördert »Pride-
Poesie«, denn heute muss nicht
mehr – kann aber noch – chiffriert
werden.
Darum wollen wir das
Gedicht, den freisten, prägnan-
testen Gebrauch von Sprache,
Urahn des Raps und Slams,
aus seinem Schattendasein
zwischen der allgegenwärtig
plärrenden Popmusik und
Television herausheben,
in ein modernes Gewand
kleiden und Wortakrobat*
innen für ihre queere Kunst
eine leicht zugängliche Platt-
form bieten: das Lyrikvideo.
Die Bild-Ton-Werke, im Rahmen
dieses Wettbewerbs entstanden,
sind bereits online zu sehen,
aber die Beiträge eben auch
in purer, ungebeugter Wort-
gewalt in dieser Anthologie
nachzulesen.
Schön, dass du dich nun
der »Pride-Poesie« zuneigst…
Martin Wolkner
Dortmund im Oktober 2021